Hier kannst du immer einige meiner letzten Texte lesen:

 

"Siesta am Mincio" 2012

"Siesta in Saló" 2012

 

"Missverständnis"


 

Daseinsberechtigung

 

Gestatten, dass ich mich vorstelle! Ich bin eine namenlose, unbekannte Drohne mit reichlich Erfahrungshorizont. Ich gehöre zur Armada der vierhunderteinzwanzig mietbaren, baugleichen Super-Drohnen der Typs „Spionageengel“, die man via Internet unter „deinedrohnekommtinshaus.de“ problemlos buchen kann.

Ich bin übrigens Drohne Nummer 137. Meine vier Polypenarme, in denen die kleinen, niedlichen Kameras eingebaut sind, leuchten hell in der Dunkelheit, wenn ich meine Kontrollflüge nachts zu starten beginne. Heute will ich euch, meinem hochverehrten Publikum, exklusiv ein paar Anekdoten aus dem Nähkästchen meines Jobs erzählen.

Neulich musste meine Wenigkeit stundenlang über einem Heavy-Metall-Konzert kreisen und die kreischenden Sänger auf der Bühne filmen. Irgendein Veranstalter hatte mich bei meinem Chef gebucht und all´ meine Einwände waren schlicht vergeblich gewesen.

„Ich habe momentan Tinitus und höre sowieso schlecht, Chef, schicken Sie doch die 117, die ist auch frei!“, hatte ich ihm vorgeschlagen.

117 hatte sogleich lauthals protestiert und mit einem sofortigen ärztlichen Attest gedroht, da bei ihr eine heftige Laryngitis im Anflug sei.

„Außerdem bin ich eine Dame“, hatte sie darüberhinaus argumentiert und dieses Argument stach bei meinem Chef.

„Du fliegst, 137, und dabei bleibt´s, und damit basta!“

Also musste ich hin. Das war ein schlechter Job. Stinklangweilig und nur laut. Mir dröhnen heute noch meine bemitleidenswerten Lautsprecher-Aufnahme-Ohren! Ach so, wahrscheinlich heiße ich deswegen auch „Drohne“. Und warum ich all´ die langhaarigen Head-Bangers habe filmen müssen, die wie wildgewordene Außerirdische auf der Bühne hin- und hergesprungen sind, verstehe ich heute noch nicht. Aber das muss ich auch nicht. Job ist eben Job, fertig aus! Man kann sich nicht nur die Rosinen aussuchen.

Aber es gibt auch reizvollere, bessere Aufgaben. Neulich hat mich ein Detektiv gebucht, weil einer seiner Klienten vermutete, dass seine Ehefrau außer ihm noch ein weiteres Betätigungsfeld hätte. Sie verstehen schon, was ich meine. Kurzum, ich musste sie über einige Wochen tagsüber engmaschig überwachen und sie überall hinverfolgen.

Friseur, Boutiquen, Schuhgeschäfte, nirgendwo ein Lover! Deshalb brach ich die Observation eines Mittags eigenmächtig ab, aß gemütlich irgendwo einen Döner und beschloss dabei, anschließend dem Detektiv Bescheid zu geben, dass er seinen Klienten beruhigen könne. Ich flog also durch das geöffnete Fenster seines Büros hinein und was soll ich lange um den heißen Brei herumreden: Da überraschte ich den Detektiv mit der Frau des Klienten in eindeutiger Position in flagranti.

Obwohl ich sofort den Abflug machte und zurück zu meiner Einheit flog, muss das Telefonat des Detektivs doch noch irgendwie ein wenig schneller gewesen sein, denn mein Chef empfing mich mit Zornesröte im Gesicht.

„137, wenn du noch einmal auf eigene Faust handelst und den Auftrag eigenmächtig veränderst, bist du entlassen!“, brüllte er mich an, als ich meine Propeller abgestellt hatte. „Dies ist ein Abmahnung!“, schrie er mir noch nach, nachdem er sich mit dem Fluch „Verdammtes Drohnenpack!“ von mir verabschiedet hatte.

„Siehst du, das hast du nun davon,137“, lachte mich 117 genussvoll und schadenfroh mit ihrem durchtriebenen Augenaufschlag an, „ich habe heute lediglich über einer Eisdiele in der Innenstadt kreisen müssen, um die Gäste für eine Statistik zu zählen. Dazu der himmlische Duft der Eiskugeln, ein phänomenaler Job!“

Ich ließ sie einfach stehen und hob ab.

Mein Auftrag als heimlicher Grillbeobachter stand dem in keinster Weise nach, fand ich, aber warum sollte ich mich mit ihr streiten?

Ach so – die Grillfete interessiert Sie? Habe ich noch nicht davon berichtet?

Also: Ein Nachbar eines Nachbarn eines Nachbarn interessierte sich für die Grillausrüstung, die Grillstrategie und die Grillgewohnheiten eben desselben und hatte mich für den Abend der bevorstehenden Grillfete mit allen anderen Nachbarn gebucht, zu der er als einziger Nachbar offenbar nicht eingeladen worden war. Unbemerkt landete ich daher rechtzeitig im Kirschbaum, versteckte mich und filmte den ganzen Abend.

Ich konnte nichts Außergewöhnliches an den Bratwürsten und dem weiteren Grillgut entdecken, aber diese Beurteilung stand mir eigentlich nicht zu, das hatten andere, nämlich der Auftraggeber, zu entscheiden.

Allerdings schien alles gut zu munden, denn alle schmatzten nach Herzenslust. Und erst die Gespräche! Ein einziges Ablästern gegen meinen Auftraggeber, den Verschmähten. Aber ich darf hier keine Details preisgeben, bei meiner Drohnen-Ehre, sonst verlier´ ich meinen Job! Sorry!

„Chef, nichts passiert, das Grillen ist ausgesprochen unauffällig verlaufen, nur dass zum Schluss einige über die Treppenstufen torkelten, aber das dürfte wohl ohne Belang sein!“

„Still,137, auf der Stelle, so eine Beurteilung der Auftragsslage steht uns und dir nicht zu!“, hatte er mich angeschnauzt, „wir müssen nur die Aufträge ausführen, sonst nichts, das gibt eine Abmahnung!“

 

Nun, ich könnte noch zahlreiche kuriose Einsätze, auch von meiner Kollegin Nummer 117, schildern, aber ich werde gerade jetzt ziemlich melancholisch, um nicht zu sagen traurig und verzweifelt, denn ich muss auch an andere Kollegen denken, an jene, denen es beileibe nicht so gut geht wie mir.

An jene Kollegen, die irgendwo, zu irgendeiner Zeit, willenlos gehorchen müssen, um Menschenleben auf Knopfdruck zu zerstören, kleine Kinder, Zivilisten, junge Mütter, und dann frage ich mich, was meine, ja unsere Drohnen Daseinsberechtigung ausmacht, warum ich, ja warum wir Drohnen überhaupt geschaffen wurden.

Dann durchzuckt ein schrecklicher Gedanke urplötzlich mein armseliges Drohnen-Gehirn und dieser Gedanke fährt mir bis hinab in mein Drohnen-Mark.

Mir wird schlecht, ich muss mich übergeben, tue es und fühle mich trotzdem nicht besser.

Mir schaudert und ich zittere am ganzen Körper.

Was wäre gewesen, wenn Hitler so eine Drohne wie mich schon damals zur Verfügung gehabt hätte...nicht auszudenken...

 

Aber sind die anderen wirklich um so viel besser?

 

Fatima

 

Draußen schneite es unablässig. Die Straßen waren schneebedeckt. Sie glitzerten gefährlich glatt. Eine einsame Amsel pickte eine unschuldige Vogelbeere vom Strauch. Der Vogel plusterte sich in der Kälte auf. Das Weihnachtsfest nahte, das Fest der Liebe. Im Klassenzimmer der 7a hing ein Adventskalender. Jeden Tag durfte ein anderer Schüler das Türchen öffnen. Am Adventskranz brannten bereits drei Kerzen.

Kiriaka war blass geworden. Alle schwiegen zunächst. Herr Wunderlich schüttelte ungläubig den Kopf. David, Dave genannt, legte seinen Kopf in die verschränkten Arme, so, als ob ihn das hier alles nichts anginge. Obwohl er der Auslöser gewesen war. 

„Ich will nicht, dass noch eine Ausländerin in unsere Klasse kommt“, hatte Dave gesagt, „hier sitzen schon genügend herum. Sie nehmen uns die Luft zum Atmen und später dann die Jobs weg! Schauen Sie sich doch ´mal um, Herr Wunderlich, lauter Griechen und Türken hier innen, und jetzt soll auch noch eine Syrerin dazukommen! Kann die überhaupt deutsch? Sie wird uns aufhalten, unseren Stoff zu schaffen und Sie sind dafür verantwortlich!“

Der Rest der 7a schwieg betreten oder verlegen oder unsicher oder alles in einem. Den zwölf Schülerinnen und acht Schülern stockte der Atem. Wie würde Herr Wunderlich auf Daves Angriff reagieren? Einige scharrten ungeduldig und nervös mit den Füßen.

Herr Wunderlich blieb ruhig. Er schüttelte den Kopf, holte tief Luft, räusperte sich ein wenig und strich sich mit dem Daumen und Zeigefinger der linken Hand abwartend von den Wangen hinab, über´s Kinn zum Halsansatz und von dort wieder zurück. Er wirkte durchaus konzentriert, kniff jetzt die Augen fest zusammen, so dass sich auf seiner Stirn Falten aufwarfen und fixierte Dave mit seinem Blick.

Jetzt begann er zu sprechen.

„Fatima versteht und spricht gut deutsch, David, sie war zwei Jahre in einer Übergangsklasse und jetzt kommt sie zu uns! Sie stammt aus den syrischen Kriegsgebieten. Ihre Familie musste vor drei Jahren fliehen! Der IS besetzte ihr Gebiet. Über die Türkei gelangten sie schließlich zu uns und jetzt sind sie hier! Denk´ doch ´mal nach, was sie alles durchgemacht haben! Stell´ dir vor, du müsstest aus deinem Heimatland fliehen und alles verlieren, was du gehabt hast! Dein Haus wäre völlig zerstört worden, du hättest kein Dach mehr über dem Kopf! Stell´ dir vor, du würdest verfolgt 

werden! Stell´ dir vor, du müsstest um dein Leben bangen! Diese ständige Angst! Wie würdest du dich fühlen?“

David sagte zunächst nichts, er gähnte nur laut. 

„Weiß nicht, ist mir eigentlich egal“, meinte er schließlich, „das ist so weit weg.“

Kiriaka meldete sich zu Wort.

„David, was hast du eigentlich gegen Ausländer? Was hast du gegen mich zum Beispiel, ich bin eine Griechin!“

„Euer Land ist pleite, ihr kostet uns nur Geld, Euros, verstehst du? Alle Ausländer kosten nur Geld, Mann!“

„Wir sind alle Europäer, kapierst du das nicht oder willst du es nicht kapieren? Wie du aus dem Unterricht wissen müsstest, sind wir in der Europäischen Union, der EU, und auch über die Nato, dem Militärbündnis der europäischen Staaten, fest zusammengeschweißt. Wir Europäer sind füreinander verantwortlich. Und wenn ein Land in Schwierigkeiten steckt, müssen alle anderen Länder dies ausgleichen, sonst bricht ganz Europa auseinander!“

Nun meldete sich Bernd zu Wort.

„Hey, Kiriaka, Griechen und Syrer sind ja wohl nicht dasselbe, oder? Syrer sind Moslems, sie glauben nicht an Gott oder Jesus, sondern an Allah! Und die Frauen sind verschleiert! Du zeigst doch auch dein Gesicht!“

Agnetha brüllte dazwischen: „Na und, ist das denn so schlimm? Jeder hat doch das Recht auf eine freie Religionswahl! Das steht doch sogar im deutschen Grundgesetz! Jeder kann doch an seinen Gott glauben!“

„Ausländer sind gewalttätig, Mann! Denk´ doch mal an an die Attentate. Alles Terroristen!“, sagte Dave und richtete sich provozierend auf. „Ich will keine Terroristin in der Klasse! Ihr vielleicht?“

Es klopfte an der Tür.

Herr Wunderlich ging hin und öffnete. Draußen stand ein Mädchen mit buntem Kopftuch. Auf dem Kopftuch waren bunte Papageien aufgedruckt. Das Mädchen wirkte zaghaft, mutlos und verschüchtert. 

„Komm herein, Fatima“, sagte der Lehrer höflich und zur Klasse gewandt.

„Das ist Fatima, eure neue Mitschülerin. Ich hoffe, sie wird sich bei uns wohlfühlen!“

„Die Papageien sind lustig“, flüsterte Thorsten etwas zu laut, sodass man es bis nach vorne hören

konnte.

Alle lachten. Auch Herr Wunderlich. Nur Dave und Bernd nicht. 

Jetzt begann Fatima in etwas gebrochenem Deutsch mit arabischem Akzent zu reden: „Ich freue mich. Ich bin Fatima. Ich komme aus Syrien. Wir leben hier in einer Wohnung. Die Wohnung haben wir von euch Deutschen bekommen, dazu auch Essen und Kleider und Geld. Wir bekommen alles von euch! Dafür danken wir euch von Herzen! Vielleicht können wir das eines Tages wieder gutmachen!“

Herr Wunderlich reichte Fatima die Hand und zeigte auf einen freien Sitzplatz in der zweiten Stuhlreihe. „Ich habe dir schon alles hergerichtet, Fatima, da vorne ist dein Platz, dort liegen bereits deine Bücher und Hefte für dich bereit!“

„Jetzt bekommt sie auch noch Schulbücher und Hefte“, stöhnte Dave laut, „ich wette sie kriegt auch den Atlas umsonst, den wir anderen alle bezahlen mussten!“

„Richtig, Dave“, sagte Herr Wunderlich, „und wenn wir auf Klassenfahrt gehen, wird sie das Geld dazu auch bekommen!“

„So eine Ungerechtigkeit!“, schrie Mark von hinten.

Fatima drehte sich um und verließ das Klassenzimmer abrupt. 

Kurz bevor sie das Klassenzimmer verlassen hatte, drehte sie sich erneut um, blickte zu Boden und sagte nur: „Schade, ich entschuldige mich.“ 

Sie riss sich das Kopftuch mit den bunten Papageien vom Kopf und warf es zurück in die Klasse. Halblanges, schwarzes, gelocktes Haar kam zum Vorschein.

„Behaltet es“, sagte sie tonlos und leise, „ich will es nicht mehr. Bunte Papageien auf dem Kopftuch sind unwichtig, auf die Menschen kommt es an!“ Das fremde Mädchen öffnete die Türe und verschwand so leise, wie es gekommen war.

Herr Wunderlich riss die Türe hinter ihr auf und rief ihr nach: „Fatima, komm´ doch zurück!“

Doch Fatima war bereits wie vom Erdboden verschwunden.

Der Lehrer rannte den Gang entlang, hin zur Treppe, die nach unten zum Ausgang führte.

Fatima saß auf der obersten Treppenstufe und dicke Tränen rollten ihr übers Gesicht hinab, tropften hinunter auf die Steine, wo sich schon ein Rinnsal gebildet hatte. Das Mädchen blickte starr hinab.

Herr Wunderlich berührte ihre Schulter vorsichtig. „Komm´ schon, Fatima, geh´ mit mir zurück in die Klasse“, meinte er in beruhigendem Tonfall.

Fatima fuhr voller Entsetzen hoch und schlug die Hände vor´s Gesicht.

„Ich kann nicht“, stammelte sie, „ich schäme mich so. Ich habe nichts, was ich euch anbieten könnte.“

Der Lehrer nahm sie sacht bei der Hand, zog sie hoch und blickte ihr direkt in ihre dunklen, geheimnisvollen Augen.

„Doch, deine Freundschaft, dein Vertrauen und deine Geduld kannst du uns schenken. Du kannst uns von Syrien erzählen, was du erlebt hast, was ihr durchgemacht habt und wie ihr geflohen seid, falls du irgendwann die Kraft dazu hast. Vielleicht verstehen dann alle, auch David!“

Er führte sie langsam den Gang entlang zur Klassenzimmertüre und sie ließ sich zaghaft führen.

Dort angekommen, hielt er an, nickte ihr aufmunternd zu und sie lächelte ein wenig. 

„Komm´ schon, das wird schon“, machte er ihr Mut und sie seufzte.

Jetzt öffnete er die Türe ganz leise und beide traten vorsichtig ein.

Es war mucksmäuschenstill im Raum. 

Alle außer David, auch Bernd und Mark, saßen auf ihren Plätzen, aber mit dem Rücken zu David gerichtet. Kein einziges ihrer Gesichter war zu sehen.

David hatte sich unter sein Pult gesetzt. Er zitterte am ganzen Körper.

Herr Wunderlich räusperte sich, um anzuzeigen, dass er wieder anwesend war, doch nichts geschah. 

Er blickte zur Tafel. „Dave, du Rassist!“ stand dort in grellem Orange geschrieben.

Das bunte Kopftuch mit den aufgedruckten Papageien war mit einem Magnet daneben befestigt worden.

 

Draußen schneite es unablässig. Die Straßen waren schneebedeckt. Sie glitzerten gefährlich glatt. Eine einsame Amsel pickte eine unschuldige Vogelbeere vom Strauch. Sie plusterte sich in der Kälte auf. Das Weihnachtsfest nahte, das Fest der Liebe. Im Klassenzimmer der 7a hing ein Adventskalender. Jeden Tag durfte ein anderer Schüler das Türchen öffnen. Am Adventskranz brannten bereits drei Kerzen.

 

In Syrien wurde gerade gebombt, gemordet und vertrieben. Fatimas Cousins starben.

 

Teilnahme am Schreibwettbwerb der "Gruppe der 48" 2018.

 

 

 

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Däs is mei leddsdes Mundarddexdla gween